Von der Mecklenburger Bucht zur Narva laht Sommer 2018

Fünf Länder, ein Meer und maximal dreieinhalb Wochen Zeit.
Laut Routenplaner 2028 Kilometer kürzeste Route bis Narva. Autobahn. – Aber wer will das denn?!
Mit dem ersten Stepp geht es dann tatsächlich erst einmal über Autobahnen von unserer heimischen Nordsee an die Mecklenburger Bucht. Wollen wir doch entlang der Ostseeküste bis zur russischen Grenze fahren.
Noah hatte vor zwei Jahren in den Westalpen sein beeindruckendes Potential als Geländegänger bewiesen, jetzt legt er als verlässlicher Langstreckengefährte souverän nach!
6513 Kilometer und Noah läuft und läuft und läuft…

Höhepunkte unserer Baltikumreise

Typische Scrabble road
Typische Scrabble road
Mittsommernacht am Peipsi järv
Mittsommernacht am Peipsi järv
Die Narva trennt die estnische Hermannsfestung und die russische Burg Iwangorod.
Die Narva trennt die estnische Hermannsfestung und die russische Burg Iwangorod.
Traumzeiten
Traumzeiten
Orthodoxe Dreifaltigkeitskathedrale in Liepaja
Orthodoxe Dreifaltigkeitskathedrale in Liepaja

An der Fähre in Swinemünde/Swinoujscie erwartet uns am nächsten Tag unverhofft eine erste tierische Begegnung: Kommt doch aus dem angrenzenden Wald am hellen Tag eine Bache mit sieben propperen Frischlingen auf den Gehweg heraus! Zielstrebig, aber ohne jede Hast, schlendert sie mit neugierig erhobener Schnüffelnase von Autofenster zu Autofenster und oft genug landen ein paar Leckerbissen inmitten ihrer begeistert aufquiekenden Bande.
Zwei Radfahrer drehen – uns völlig verständlich – mit verdutzten Gesichtern um und nehmen die andere Straßenseite. Ein Jogger aber trabt völlig entspannt an dem quirligen Haufen vorbei und weder Bache noch Frischlinge schauen sich auch nur nach ihm um! – Und wir wissen nun, warum der Ort Swinemünde heißt…

Vom Oderhaff/Zalew Szczeciński aus folgen wir solange es geht der 102 dicht unterhalb der Küste und knacken am nächsten Tag mit Noah in Stolp/Slupsk seine 300.000er Marke, als Dank bekommt unser Großer einen Tank voll Premium-Diesel. 😉
Jörg tut mir später den Gefallen und sucht zwischen Baustellen und Umleitungen einen Weg durch Danzig/Gdańsk zum historischen Krantor, das ich so gerne wiedersehen möchte.
Wie eindrucksvoll steht diese geschichtsträchtige Hafenpromenade jetzt wieder da! – Konnte ich sie doch Anfang der 80er Jahre durch die aufgezwungene, realsozialistische Mangelwirtschaft nur noch dem Verfall preisgegeben erleben. Das hat schon damals traurig gemacht – und wütend!

Von der Mecklenburger zur Danziger Bucht

Start an der Mecklenburger Bucht
Start an der Mecklenburger Bucht
Am Stettiner Haff
Am Stettiner Haff
Schweinebande
Schweinebande
300000... und läuft und läuft und läuft!
300000... und läuft und läuft und läuft!
Historisches Krantor in Gdansk
Historisches Krantor in Gdansk

An der Danziger Bucht/Zaloka Gdańska verlassen wir notgedrungen die Küste und wenden uns auf direktem Weg nach Osten in Richtung polnisch-litauische Grenze. – Jörg hätte die russische Enklave durchaus interessiert, aber für mich ist Russland gerade derzeit ein absolutes Tabu.
Verblüffend lange Baustellen begleiten uns auch weiter auf unserem Weg durch Nordpolen. Gefühlt ist das halbe Land eine einzige Baustelle und oft sind die verbliebenen Untergründe – besonders die der Ausweichstrecken – schon halbe Offroadpassagen und wir fragen uns mehr als ein Mal, wie dort ein normaler PKW durchkommen soll – oder besser: wie oft der wohl aufsitzt.
Unser Navi schlägt sich tapfer mit den polnischen Namen und bringt uns oft genug mit seinen virtuosen Interpretationen zum Lachen. – Dabei muss ich ganz still sein! Verknotet sich meine Zunge doch meist schon vor der zweiten Silbe zwischen all den ungewohnt aneinandergereihten Konsonanten und was dann dabei rauskommt, kann beim besten Willen nicht mal ein Einheimischer mehr verstehen…
Aber probiert mal, Ortsnamen wie Strzeszewo, Wrzeszcz oder Pszczezólki auszusprechen – und das möglichst fließend, bitte! 😉

Bald schon durchziehen langgestreckte Seen die sanft hügelige Landschaft, an den Feldrainen wiegen sich Kornblumen, Mohn und Kamille im warmen Sommerwind und der Himmel strahlt wie seit Wochen in wolkenlosem Blau. – Wir fahren durch das wunderschöne Masuren.
In der Gegend um Mikolajki erstrecken sich ausgedehnte Seenplatten auf denen Segelschiffchen friedlich ihrem Kurs folgen. Die breiten Schilfgürtel um die Seen gehen über in naturbelassene Brachflächen und Moore. – Ein Eldorado für Störche! – Und aus jedem der unzähligen Nester recken sich zwei, manchmal sogar drei flauschig zerzauste Köpfe mit langen, schwarzen Schnäbeln. Wir sehen in diesen drei Wochen mehr Störche, als in unserem gesamten Leben vorher!
Allerdings hat das viele Süßwasser einen entscheidenden Nachteil: Es ist genauso ein Eldorado für Mücken! Und diese Biester sind dort so blutrünstig, dass sie schon über mich herfallen, kaum das ich die Dusche abgedreht habe…

Von Elk aus, wo wir tatsächlich die ersten Elch-Warnschilder in den weiten Wäldern Ostpolens sehen, fahren wir der Zeit wegen über die S61 / E67 direkt nach Marijampole in Litauen. Der Verkehr nimmt weiter spürbar ab, mitunter sind wir selbst auf dieser großen Hauptachse, die als Teilstück zur Via Baltica gehört, ganz allein unterwegs.
Da Litauen es untersagt, angebrochene Alkoholflaschen im Fahrzeug mitzuführen, schaukeln Aquavit und Fernet Branca von nun an einträchtig im Dachzelt durch’s Land…
Aber unser Navi spinnt!
Warum kommen wir plötzlich soviel später an? Kein Stau, keine Umleitung? – Und die Turmuhr in Jurbarkas geht genau eine Stunde vor!?
UNSINN!
Wir haben verpennt, dass wir in die nächste Zeitzone eingefahren sind!
Es gibt Absolution für Navi und Turmuhr – für uns?
… naja, Verhandlungssache…
Von Marijampole wenden wir uns gleich wieder westlich und nutzen die kleinsten Sträßchen entlang der russischen Enklave zurück zur Küste.
Ab Jurbarkas begleitet uns der Nemunas als Grenzfluss. Venté im Naturpark in seinem Delta ist unser Tagesziel. Es liegt malerisch am Ende einer Landzunge, Ventés ragas, die sich ins Kurische Haff hinaus erstreckt und von sandigen Untiefen umgeben ist.

Polen und Litauen

Storchennachwuchs, wohin man schaut
Storchennachwuchs, wohin man schaut
Ein erste der zunehmend gewöhnungsbedüftigeren Toiletten...
Ein erste der zunehmend gewöhnungsbedüftigeren Toiletten...
Unberührte Naturstrände
Unberührte Naturstrände
Sonnenuntergang über der Kurischen Nehrung
Sonnenuntergang über der Kurischen Nehrung
Eine letzte Storchenpatrouille
Eine letzte Storchenpatrouille

Um aber dorthin zu gelangen, müssen wir das Delta mit seinen Moorgebieten weit umfahren. Denn unmittelbar vor dem alten Ort Rusné endet unser Sträßchen, der Nemunas teilt sich hier in einen nördlichen Arm, Atmata genannt, und einen südlichen, Skirvyté. Damit macht er die Gegend um Rusné zur Deltainsel – mit nur einer einzigen Brücke als Landverbindung, so dass sie für unsere Route nichts nützt…
Richtung Norden erstrecken sich ausgedehnte Moore. Aus unserer südöstlichen Richtung führt der einzig mögliche Weg über Siluté, dann folgt das kleine Sträßchen dem Uferverlauf des Kroku Lanka, überquert die Minija und trifft in Kintai auf eine größere, okay: auf ein etwas größeres Sträßchen, das bis Venté hinaus zur Vogelwarte führt. Kurz davor liegt, im Schutzgebiet direkt am Naturstrand des Kurischen Haffs, der gemütliche Campingplatz ‚Ventainé‘. – Und, Leute, der Koch dort kann’s!
Abends lümmeln wir dann gemütlich am Strand, genießen die Stille und versuchen herauszuhören, welcher Vogel da gerade den Tag verabschiedet…

Am nächsten Morgen nutze ich die einsame Stille früher Stunden für einen ausgedehnten Fotospaziergang am Haff.
Hier, ohne den menschlichen Eingriff, zeigt die Natur beeindruckend, wie sie mit dem Wechselspiel der Kräfte von Meer und Landleben arbeitet. Aus einem von stürmischen Fluten umgeworfenen Baum recken sich gleich drei junge Stämme himmelwärts – obwohl dessen Wurzeln zur Hälfte blankgewaschen und abgestorben sind. Im Schilfgürtel raschelt leise der Wind und eine Entenschar cruist entspannt in Richtung offenes Meer. Auf der Kurischen Nehrung lässt die Morgensonne die weltberühmten Dünen leuchten. Schwäne ziehen laut trompetend im Tiefflug über das Haff, der Campingplatzkater gönnt sich Fisch zum Frühstück und eine Nebelkrähe macht Yoga am Strand…

Impressionen vom Nemunasdelta-Regionalpark

Natürlicher Wettstreit zwischen Meer und Land
Natürlicher Wettstreit zwischen Meer und Land
Idyllische Ausblicke
Idyllische Ausblicke
Nebelkrähen machen morgens Yoga am Strand!
Nebelkrähen machen morgens Yoga am Strand!
Blick hinüber zur Kurischen Nehrung, ...
Blick hinüber zur Kurischen Nehrung, ...
... deren weltberühmte Dünen in der Morgensonne leuchten.
... deren weltberühmte Dünen in der Morgensonne leuchten.

Aber noch muss die Kurische Nehrung warten, für heute haben wir uns die Deltainsel vorgenommen. Wir fahren durch diese schöne, wasserreiche Landschaft über die einzig mögliche Strecke zurück zur Brücke nach Rusné. Auf dem Weg dorthin sprintet kurz vor uns ein aufgeschreckter Fuchs mit seinem Frühstück im Fang über die Straße, argwöhnisch mustert er uns. Flauschepelz – wir sind schon satt, also wegen uns brauchst du dich nicht so beeilen…
Der alte Fischer- und Flößerort Rusné wurde schon 1448 urkundlich erwähnt und so ist der Regionalpark auch wegen der ethnografisch wertvollen Dörfer und Gehöfte dort gegründet worden. Aber auch als Schutzgebiet für alle, die sich gerne in Sumpf und Wasser tummeln. Es gibt unzählige Vögel in den ausgedehnten Röhrichtflächen, die sich entlang der zahlreichen Wasserläufe erstrecken. Die Sümpfe und Salzwiesen bieten genug Nahrung für tausende Störche, darunter sogar die seltenen Schwarzstörche. Und dass Otter sich hier wohlfühlen, wundert uns bei dieser ausgeprägten Wasserlandschaft gar nicht – gilt doch ein Boot als bestes Verkehrsmittel im Delta. Im Frühjahr sind viele der Schotterwege und große Teile der Deltainsel überflutet, sie liegt nur rund einen Meter über dem Flusspegel und in Teilen sogar unter dem Meersspiegel des Kurischen Haffs, so dass die starken Frühjahres-Hochwasser regelmäßig über die Deiche kommen. – Und bei Eisbruch ist der Ort nur noch mit Amphibienfahrzeugen oder per Helikopter zu erreichen…
Jetzt haben die Wasserläufe erstaunlich unauffällige Pegelstände, die Pflanzen zeigen ein (verstaubtes) Grün, doch ansonsten ist der Boden des Deltas in diesem Jahrhundertsommer knochentrocken und ausgedörrt. Auf den Waschbrettpisten zieht Noah eine beachtliche Staubwolke hinter sich her, obwohl wir tunlichst die freigegebenen siebzig Stundenkilometer nicht ausfahren. – Zerlegen die andauernden Vibrationen doch ohnehin alles am Auto, was nicht niet- und nagelfest ist! Und sobald wir uns gemütlich anlehnen, spüren wir unsere neuen Massagesitze und unsere Zähne schlagen leicht aufeinander. Auch findet dieser feine Staub seinen Weg bis in den letzten Winkel – selbst zwischen unseren Zähnen knirscht es bald, obwohl wir vorsorglich die Klappen halten 😉 , und die Kamera ist dreilagig verpackt wie damals bei dieser Quadtour vor Jahren auf dem Sinai…

Nemunas-Deltainsel

Die Inselstraßen sind Schotterstraßen, ...
Die Inselstraßen sind Schotterstraßen, ...
... ausgedörrt und staubig...
... ausgedörrt und staubig...
... und oft schnurgerade bis zum fernen Horizont.
... und oft schnurgerade bis zum fernen Horizont.
Traditionelles Holzhaus im Obstgarten
Traditionelles Holzhaus im Obstgarten
Malerische Wasserwege durchziehen das Sumpfgebiet.
Malerische Wasserwege durchziehen das Sumpfgebiet.
Hauptstraße!
Hauptstraße!
Der Skirvyté ist Grenzfluss zur Kaliningrader Enklave.
Der Skirvyté ist Grenzfluss zur Kaliningrader Enklave.
Staubtrocken sind die Waschbrettpisten, ...
Staubtrocken sind die Waschbrettpisten, ...
offiziell darf man hier 70 km/h...
offiziell darf man hier 70 km/h...
... und das fahren die Einheimischen auch!
... und das fahren die Einheimischen auch!

Bei einer gemütlichen Umrundung der Deltainsel folgen wir dem Skirvyté im Grenzverlauf, legen einige Stopps an landschaftlich besonders reizvollen Orten ein und sehen uns das ethnografische Museum an. Wir folgen einer Dorfstraße, die trotz offiziellem Straßennamen eher einem ausgefahrenen, schmalen Feldweg gleicht – und dann auch prompt im Hof eines Gehöfts endet…
Nachmittags verabschieden wir uns wieder über diese abenteuerlichen Riffelpisten von diesem ursprünglichen Flecken Erde, auf dem die Zeit noch stehengeblieben zu sein scheint.

So eng es die weitläufigen Moorgebiete zulassen, folgen wir nun dem Küstenverlauf gen Norden nach Klaipeda. Wir wollen heute noch übersetzen auf die Kurische Nehrung und auf der einzigen Nord-Süd-Trasse dort die etwa 50 Kilometer bis Nida zum Campingplatz nach Süden zurückfahren. – Da die ganze Landzunge als Nationalpark geschützt ist, dürfen wir natürlich nirgendwo frei Campen.
Vom Fähranleger führt der schmale Asphaltstreifen meist kilometerweit geradeaus durch lichte Kiefernwälder, immerzu dem östlichen Küstenstreifen der Nehrung folgend. Wir fahren auf bewaldeten Dünen – die komplette Nehrung besteht aus purem Sand und ist in ihrer Einzigartigkeit seit dem Jahr 2000 als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet. Punkted sie doch mit Superlativen wie der höchsten Düne in der längsten Dünenlandschaft des Kontinents.
In ihren sanften Sandhügeln liegen bis Juodkranté einige kleine, aber schön angelegte Rastplätze, die den Blick auf das friedliche Wasser des Haffs und die wenige Seemeilen entfernte Küste freigeben. Oft sind es nur ausgetretene Wildwechsel, die durch den Schilfgürtel zum Wasser führen. Das Süßwasser, das hauptsächlich über den Nemunas ins Haff strömt, sorgt hier für einen extrem niedrigen Salzgehalt.
Immer wieder halten wir an, sehen uns um und holen uns Hintergrundinfo’s von den gut gemachten Nationalpark-Tafeln.
Etwas später hören wir, lange bevor wir sie im dichten Schilf sehen können, eine Schwanenkolonie mit mehreren hundert Tieren – und dem entsprechenden Trompetenkonzert.
Und dann entdecke ich im feuchten Untergrund des Spülsaumes einen Pfotenabdruck. – Einen beeindruckenden Pfotenabdruck!
Größer als meine Handfläche, die ich daneben lege…
Wolf!
Die markante Einbuchtung am unteren Ballenrand lässt jeden Zweifel verstummen. – Und zum ersten Mal empfinde ich es als unglaublich schade, dass wir heute Nacht nicht einfach ganz still hier stehen und auf ihn warten können!!
Aber ich versuche mich mit dem Wissen zu trösten, dass Wölfe Wanderer sind wie wir – und es keineswegs gesagt ist, dass er noch in dieser Gegend herumstreift.

Kurische Nehrung

Wolfsfährte!
Wolfsfährte!
... malerische Westküste
... malerische Westküste
Traditionelles Holzhaus
Traditionelles Holzhaus
... nie vorher gesehene Pflanzen
... nie vorher gesehene Pflanzen
Museumshaus mit Kurenkahn und Kurenwimpeln
Museumshaus mit Kurenkahn und Kurenwimpeln

Wenige Kilometer hinter Juodkranté wechselt der Pistenverlauf von der stillen Haffseite nach Westen an die stürmische Ostseeküste und weicht damit den offenen Sanddünen im Osten aus. Liegt der Ort doch geschützt zwischen den beiden großen Parabol-Dünen und hat selbst die Zeit der Wanderdünen unbeschadet überstanden. Noch heute schützen von drei Seiten her Reste des ursprünglichen Waldes diese Siedlung, deren Wurzeln nahezu 600 Jahre zurückreichen.
Ab jetzt geht es – gefühlt – nur noch geradeaus bis Nida, und das über die Hälfte der Gesamtstrecke! Oft begrenzen nur die Dünenhügel, in denen die Straße auf- und abtaucht, die Sicht voraus. Fortwährend hören wir starke Brandung rauschen, müssen aber, um das Meer erreichen zu können, jeweils wenige hundert Meter den kleinen Stichsträßchen Richtung Strand folgen.
Ordentlich pfeift uns der Wind hier um die Ohren, nimmt er doch von der Kieler Bucht aus ungehindert Anlauf! Entsprechend ist diese natürliche Küste wildromantisch: Blaugrüner Strandhafer duckt sich unter den Böen weg, die den feinen Sand über den Strand peitschen und zu immer neuen Wellenmustern formen. Kaum kniehohe Wildrosen breiten herrliche Blütenteppiche in den geschützten Dünentälern aus und auf den Wellen der endlos erscheinenden Ostsee tanzen grelle Lichtreflexe im Sonnenschein. Die Brandung aber bricht sich tosend zu unseren Füßen und rollt weit über den Strand herauf…

Auf der stillen Seite der Nehrung, geschützt in den Wäldern am Haff, liegen malerische Fischerorte mit ihren reich verzierten, denkmalgeschützten Holzhäusern. – Eines schöner, als das andere! – Traditionell überwiegen die Farben Blau, das Meer symbolisierend, mit filigranen, weißen Holzverzierungen, die die Schaumkronen darstellen, Brauntöne stehen für die Erde.
Oft sind die Haustüren zweigeteilt, damit die Bewohner aus der oberen Hälfte herauskommen konnten, wenn Flugsand den unteren Teil wieder einmal verbarrikadiert hatte.
Immer wieder sehen wir in den liebevoll gepflegten Gärten hohe Holzmasten mit geschnitzten und bunt bemalten historischen Kurenwimpeln. Sie gehen auf eine längst vergangene Fischereiverordnung zurück und mussten im Mast der alten Kurenkähne geführt werden um den Eigner und seinen Status identifizieren zu können.

Die Nehrung und ihre Wanderdünen sind ein bemerkenswertes Kapitel für sich!
Ursprünglich bedeckten Mischwälder die Landzunge, die den dort lebenden Stämmen heilig waren. Nicht aber den verschiedenen, späteren Besatzern. Nachdem jahrhundertelang mit unvernünftigen Rodungen dem Sand die stabilisierende Deckschicht genommen worden war, konnten die stürmischen Westwinde in den wüstenähnlichen Arealen den Sand zu riesigen Wanderdünen auftürmen – die sich dann träge, aber unaufhaltsam Richtung Osten wälzten.
Viele Orte mussten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufgegeben werden, weil die Menschen der Bewegung dieser Sandmassen nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Mittlerweile waren aber ihre Häuser so konstruiert, dass sie abgebaut und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden konnten. – Ein steter Wettlauf gegen den Sand…
Abhilfe schafften erst bepflanzte Schutzdünen an der Seeseite, die den Sand hielten, und auch die Wiederaufforstung mit ausgedehnten Kiefergürteln um die Siedlungen herum, die den Wanderdrang der inneren Dünen bremsen konnten. – Doch noch heute wandert die Nehrung ganz allmählich nach Osten.
Groteskerweise sind es heute die Dünen, die gefährdet sind.
Heftige Weststürme tragen weiterhin Jahr für Jahr große Mengen Sand von ihnen ab und wehen ihn ins Haff. Andererseits ist der Nachschub an Sand durch Vordünen und Pflanzengürtel abgeschnitten.
So ist beispielsweise die Parnidder Düne bei Nida in den letzten Jahrzehnten um zehn Höhenmeter geschrumpft…
Heute suchen Wissenschaftler und Naturschützer nach Möglichkeiten die Dünen zu erhalten, ohne wieder die Siedlungen zu gefährden.

Rundblick von der Parnidder Düne

Die Düne fällt steil zur Haffküste ab.
Die Düne fällt steil zur Haffküste ab.
Russische Marine kreuzt an der Grenzlinie.
Russische Marine kreuzt an der Grenzlinie.
Sklandytoju (Gleiter-) Düne
Sklandytoju (Gleiter-) Düne
Schmale Landzunge zwischen Haff und Ostsee
Schmale Landzunge zwischen Haff und Ostsee
Wald hält den Flugsand der Küstendünen zurück.
Wald hält den Flugsand der Küstendünen zurück.

… unter diesen Sandmassen liegen die ersten beiden Siedlungen mit Namen Nida begraben, die erste wurde 1675, wenige Jahre später, schon 1731, die zweite verschüttet.
Mit Schutzgebieten versucht man jetzt, Balance zu halten. Auch die Parnidder Düne liegt in einem Schutzgebiet, dem Parnidis-Landschaftsschutzgebiet, und ist nur auf vorgezeigten Wegen zu betreten. Anders das Grobstas-Naturreservat, das sich Richtung Süden anschließt und überhaupt nicht betreten werden darf. Aber da es ohnehin im Grenzgebiet zur russischen Enklave liegt, stört uns das nicht wirklich. Bestimmt aber die Gleiter, die sich früher von der 65 Meter hohen Dünenkante mit ihren Gleitschirmen über’s Haff tragen lassen konnten…

Sonnenuhr-Kalender auf der Parnidder Düne

 Obelisk im Zentrum
Obelisk im Zentrum
Runen und Litauischen Monatsnamen
Runen und Litauischen Monatsnamen
Bruchstücke des im Orkan 1999 zerstörten ersten Obelisken
Bruchstücke des im Orkan 1999 zerstörten ersten Obelisken
Vier Skulpturen am Rand markieren Tag- und Nachtgleichen und Sonnenwenden.
Vier Skulpturen am Rand markieren Tag- und Nachtgleichen und Sonnenwenden.
Sommer- und Wintereinteilung
Sommer- und Wintereinteilung

Von der Parnidder Düne aus hat man einen grandiosen Rundblick über den weiten Horizont! Morgens kann man die Sonne über dem Kurischen Haff aufgehen sehen und verliert sie nicht einen Moment während des Tages aus den Augen, bis sie abends in der Ostsee versinkt. – Ein idealer Platz für eine Sonnenuhr!
Diese Sonnenuhr ist mit einem Kalender ergänzt, der die Tage, Wochen und Monate eines Jahres widerspiegelt. Der fast 14 Meter hohe Obelisk im Zentrum wirft seinen Schatten auf ein ausgeklügeltes Stufensystem, eine Stufe entspricht dabei einer Stunde. Die hellsten Stufen markieren Monate und Tagstunden. Mittelgraue und dunkelgraue die Nachtstunden im Sommer bzw. Winter. Vier Skulpturen am Rand bezeichnen die Tag- und Nachtgleichen und die Sommer- und Wintersonnwenden. Runen ergänzen neuzeitliche Symbole. – Jörg denkt sich in diese beeindruckende Konstruktion ein und kann mir dann all meine Fragen beantworten.
Dieser morgentliche Ausflug zur Düne ist Höhe-, aber gleichzeitig auch Schlusspunkt unseres Besuchs auf der Nehrung. Wir folgen wieder den Geraden des kleinen Sträßchens, diesmal gen Norden in Richtung Smiltyné, setzen dort mit der Fähre nach Klaipeda über und fahren entlang des Küstenverlaufs weiter ins nahe Lettland.

Mit der Grenze – an der die Posten zwei grüne Pajeros fahren! 😉 – geht die litauische A13 nahtlos in die lettische A11 über. Eine Weile sind wir gezwungen, auf dieser Autobahn, die in etwa einer Deutschen Landstraße entspricht, zu fahren und könnten erst hinter Nica wieder direkt ans Meer kommen. Aber wir entscheiden anders: Statt weiter Asphalt unter die Räder zu nehmen, nutzen wir von Nica aus Mini-Sand-Schotterpisten am östlichen Ufer des Liepajas ezers (-Sees) entlang. – Und diese kilometerlangen Riffelpisten wecken bei unseren OME’s Heimatgefühle…
Von Liepája aus führen uns kleine Sträßchen zurück zum Meer und folgen hier eng dem Küstenverlauf. Leider jedoch getrennt durch einen schmalen Waldstreifen, der aber immer wieder bildschöne Ausblicke weit über die vom Wind aufgewühlte Ostsee zulässt.
Weiter nördlich kann man dann solch einen kleinen Rastplatz, durch ein blaues Schild mit weißer Tanne gekennzeichnet, ansteuern, um direkt an’s Meer zu kommen. Auf so einem schlagen wir dann auch unser Quartier für die nächste Nacht auf und genießen bis in den späten Abend hinein einen dieser endlos weiten, unberührten Strände…

Lettlands Westküste

endlose, unberührte Strände
endlose, unberührte Strände
Da hatte jemand eine wirklich gute Idee!
Da hatte jemand eine wirklich gute Idee!
Die Sonne bricht durch die Wolkenbank.
Die Sonne bricht durch die Wolkenbank.
Weite - Stille - Leben pur spüren
Weite - Stille - Leben pur spüren
letztes Licht in den Wellen
letztes Licht in den Wellen

Natur pur bis zum fernen Horizont, ohne einen einzigen Menschen außer uns, selbst ohne jegliches Zeichen von Zivilisation! – Nicht einmal ein entferntes Motorengeräusch auf Straße oder Meer stört die Stille…
Wir spazieren in dieser paradiesischen Einsamkeit, lauschen dem steten Rhythmus der brechenden Wellen und beobachten die rasch ziehenden Wolken. Ein heftiger Wind zaust uns durch die Haare und riecht nach Salz und Meer…

Weiter nördlich wird der Strand schmaler und die Küste steiler, bis sie bei Jurkalne mit zwanzig Metern ihren höchsten Punkt erreicht. Bis vor Kurzem konnte man diesen direkt ansteuern, was jetzt leider nicht mehr möglich ist. Doch den Fußweg belohnt ein herrlicher Ausblick hinaus auf’s Meer und auf diese ursprüngliche, wildromantische Steilküste. Von Sturmfluten ihres Sandes beraubt, bricht sie in einer harten Kante ab. Abgestürzte, von stürmischen Wogen modellierte Baumskelette wirken wie natürliche Skulpturen und manch einer der Bäume sieht schon dem gleichen Schicksal entgegen…
Wenige Kilometer weiter liegt die Brauerei von Uźava – und schon zu Hause stand fest, dass wir dort einkaufen müssen 😉 , ist sie doch in ganz Lettland für ihr Bier berühmt – und ja, es ist ein gutes Bier!
Das stellen wir aber erst viel später am Abend fest, nachdem wir dem historischen Leuchtfeuer Uźavas baka von 1924, das mittlerweile an der Abbruchkante dieser malerischen Steilküste steht, einen Besuch abgestattet haben.
Dichte Kiefernwälder begleiten uns auch weiter auf unserem Weg nach Norden. Vielfach gibt es schnurgerade Schotter- oder Waldwege, die von den Küstenstraßen P111, südlich Ventpils, und P124, nördlich davon, zur Steilküste hinüberführen, doch direkt das Meer zu sehen ist von diesen Straßen aus nicht möglich. Für uns schade, aber die Streckenführung macht absolut Sinn, wenn man die winterlichen Schneestürme aus Westen bedenkt…
Nördlichster Punkt unserer Tagestour ist Kolka, etwas südlich des gleichnamigen Kaps gelegen  – und dieser ganze kleine, verschlafen wirkende Ort duftet verführerisch nach Räucherfisch! Entlang dem Hauptsträßchen stehen einfache Bretterbuden, in denen alte Frauen den Fang ihrer Fischer anbieten. Ich kaufe uns einen ganzen, nicht eben kleinen Rotbarsch, dessen erste Hälfte das Abendessen schon nicht mehr erlebt  – der beste Räucherfisch auf der ganzen Tour!

Bilderbogen der Westküste Lettlands

Steil sind die Küsten um Jurkalne,
Steil sind die Küsten um Jurkalne,
erschaffen Kunstwerke und
erschaffen Kunstwerke und
zeigen ihre Verletzbarkeit.
zeigen ihre Verletzbarkeit.
Schwarzbeeren soweit das Auge reicht...
Schwarzbeeren soweit das Auge reicht...
Leuchtfeuer von Uzava
Leuchtfeuer von Uzava
Windflüchter als Carport
Windflüchter als Carport
wilder Thymian in der Steilküste
wilder Thymian in der Steilküste
... noch eben zu sehen
... noch eben zu sehen
Wald, Wald und noch mehr Wald...
Wald, Wald und noch mehr Wald...
Kirche zu Kolka
Kirche zu Kolka

Am Kolkas rags verlassen wir die stürmische, offene Ostseeküste und folgen dem Westufer der friedlich im Sonnenschein liegenden Rigaer Bucht. Allmählich wird es für uns Zeit, nach einem Platz für die Nacht Ausschau zu halten. – Und wir finden den fantasievollsten und gemütlichsten Campingplatz all unserer Touren bislang!
Ich hatte einen kleinen Hinweis auf einen Campingplatz mit der Möglichkeit, im Fass zu übernachten in unserem Reiseführer gelesen. Jörg ist seit Monaten von der Idee begeistert, ein Fass als Gartenhaus im wilderen Teil unseres Gartens zu haben. Deshalb sage ich ihm davon erst mal nichts und lotse ihn nur bei dem kleinen hölzernen Hinweisschild in den Wald. Morgen hat Jörg Geburtstag. Weit weg von zu Hause. Gerade deshalb soll es etwas Besonderes für ihn werden – und genau das verspricht dieser Platz. Und er hält, was er verspricht!
Dieses Camp steckt voller fantasievoller, liebenswerter Ideen, hat eine geniale Lage zwischen Wald und Meer und wird von einer sehr engagierten, sehr jungen Crew voller Aufmerksamkeit und Umsicht gemanagt. – Wir sind einfach nur begeistert!!

Kempings Melnsils

... also, wenn hier sogar der Weihnachtsmann Urlaub macht...
... also, wenn hier sogar der Weihnachtsmann Urlaub macht...
Rezeption der anderen Art
Rezeption der anderen Art
Wohnfass in genialer Lage
Wohnfass in genialer Lage
Camp voller einfallsreicher Ideen
Camp voller einfallsreicher Ideen
Treffpunkt Boot
Treffpunkt Boot
Abends wird die Sauna angeheizt.
Abends wird die Sauna angeheizt.
Wir machen Lagerfeuer am Strand.
Wir machen Lagerfeuer am Strand.
Ist das ein Feierabend-Platz?!
Ist das ein Feierabend-Platz?!
Einfach idyllisch...
Einfach idyllisch...
... zum Wohlfühlen!
... zum Wohlfühlen!

Mit Glück – und ich hatte heimlich Jörg’s Geburtstag als Grund verraten – bekommen wir für eine Nacht eines der sonst ausgebuchten Fässer, aber das reicht uns ja auch. Perfekt!
Direkt an der kleinen, steinigen Steilküste bietet es eine grandiose Aussicht über’s Meer – aber keiner kann reinschauen…

Wir stellen Noah gleich am Fass hinter den Windschutzwall und bummeln erst einmal über den Platz, sehen uns um: Die Rezeption ist ein weitestgehend offener Pavillon, der zu jeder Tag- und Nachtzeit ein trockenes Plätzchen und eine Kaffeemaschine bietet. Von Surfbrettern über Fahrräder und Boote bis Segways kann man alles mieten und sich in Wald und Meer austoben.
Durch die urige Kneipe wachsen zwei Birken, die einfach in Dach und Holzfußboden integriert sind. Warum hätte man sie auch fällen sollen?! Das Essen ist köstlich! Und auch hier spüren wir deutlich, dass die Crew mit Lust bei ihrem Job ist! Draußen die Sitzgelegenheiten vorm Wintergarten der Kneipe sind so ausgefallen wie witzig. Schaut mal auf das Foto.
Duschen kann man kostenlos in einem Bretterverschlag mit großem, schwarzen Wasserfass auf dem Dach – oder aber in den beiden geräumigen Duschen, die schon eher kleine Badezimmer sind – und nordisch warm.

Entlang der Küste zieht sich bis in den Wald hinein eine grüne Wiese als Stellplatz und zu jedem Fass, zu jedem Stellplatz gehört hier eine Feuerstelle. – Die Jungs an der Rezeption lassen es sich nicht nehmen, Jörg das Holz für’s Lagerfeuer heute zu schenken.
So feiern wir in dieser romantischen Nacht mit Bier aus Uźavas und leckerem Fleisch auf dem Grill in seinen Geburtstag hinein – bis Petrus das Feuer mit einem heftigen Regenguss löscht. Ärgern kann er uns heute nicht. Wir verkrümmeln uns in unser Fass, lassen uns noch einen leckeren Rotwein schmecken und genießen das Schauspiel wild übers Meer dahinjagender Wolken vom gemütlichen, großen Bett aus.
… und zu Mitternacht dann gibt es das so sorgsam versteckt und gehütete Yes Torty mit einem Minikerzchen drauf…

Der Regen von gestern hat den Wetterwechsel eingeleitet. Böiger Wind treibt graue Wolkenbänke über den Himmel, dann wieder behauptet sich die Sonne für ein halbes Stündchen…
Wir frühstücken in der urigen Campingplatz-Kneipe, Jörg bekommt als Start in seinen Geburtstag eine Extraportion Rühreier mit Schinkenpeck, und beobachten das ganze eine Weile – und beschließen dann, dieser unbeständigen, mit starkem Sturm vorhergesagten Front nach Osten ins Landesinnere auszuweichen.

Riga bis Latgale - dem Osten

Rigaer Altstadttürme
Rigaer Altstadttürme
Campingplatz im Entstehen
Campingplatz im Entstehen
Erstaunliche Konstruktionen,
Erstaunliche Konstruktionen,
herrschaftliche Häuser, wie das Gut von Alatskivi...
herrschaftliche Häuser, wie das Gut von Alatskivi...
... und Quartier für kleine Nachbarn...
... und Quartier für kleine Nachbarn...

Bis Riga folgen wir wieder der kleinen Küstenstraße am Westufer der Bucht entlang. Als wir dann in der Stadt die Daugava überqueren, haben wir von der Brücke aus einen schönen Blick auf die reizvolle Altstadt. Doch wir wollen heute Strecke machen, haben einen unserer Schittwetter- Fahrtage eingeschoben, mit denen wir schon manches Mal Petrus‘ Launen entgehen konnten. Also nehmen wir die gut ausgebaute A2 / E77 direkt ins Dreiländereck Lettland-Estland-Russland.
An diesen Überlandstraßen sind, wo immer ein paar Häuser zusammenstehen, Tische oder Kisten am Straßenrand aufgebaut und Kinder wie alte Leute bieten frisch gesammelte Pilze und Schwarzbeeren oder alles, was der eigene Garten gerade zu bieten hat, an. – Sonnenverwöhnte, aromatische Erdbeeren, die nach den Erdbeeren aus Kindertagen schmecken…
Je weiter wir nach Norden kommen, desto schmackhafter und frischer werden die Snacks an den Tankstellen – Skandinavien lässt grüßen – und der Coffee-to-go schmeckt so, dass man am nächsten Tag gerne wieder einen mitnimmt.
Abends verlassen wir Richtung Ape die großen Straßen und halten uns nordwärts, Estland ist schon zum Greifen nah. Vorher wollen wir aber in dem Städtchen vorsichtshalber noch tanken, kleine Straßen, noch kleinere Orte und nur noch ein zu einem Viertel voller Tank passen uns nicht wirklich gut. Nur – wir können keine einzige Tankstelle finden!
Also fragen wir einen jungen Mann auf der Straße und seine erste Rückfrage ist: „Wieviel Reichweite habt ihr noch?“ – Das klingt jetzt nicht sooo beruhigend… – 150km sind es mit Sicherheit. „Seid ihr ganz sicher?“, hakt er nach. Doch das sind wir. Von hier aus gibt es zwei Optionen: 50km zurück nach Alüksne oder 120km voraus ins estnischen Vöru. Das ist unsere Richtung, das machen wir. Kritisch gibt er noch zu bedenken, dass dort erstmal sehr viel Natur wäre und bietet uns an, er hätte viel Bekannten im Ort, von denen er weiß, dass die Diesel zu Hause haben, es wäre somit kein Problem, den für uns zu organisieren – falls wir doch nicht ganz sicher wären…
…  seine spontane Hilfsbereitschaft beeindruckt uns nachhaltig!

Die Nacht verbringen wir dann wieder auf einem ausgefallenen Campingplatz. Er entsteht gerade. Ein deutsches Paar hat uralten Familienbesitz zurückgekauft und versucht dort, einen Campingplatz zu etablieren. Hedo talu haben sie ihn genannt. Man kann bereits duschen und Wäsche waschen, es gibt eine Outdoor-Küche mit heißem Wasser, Herd und Kühlschrank, die Kay und seine Frau gerne mit den Gästen teilen. Die Bio-Trennkompost-Toilette ist die erste ihrer Art, die wir bislang gesehen haben. Auf den gemähten Arealen der großen Wiese inmitten knorriger, alter Bäume kann man sein Plätzchen frei wählen und hat Natur pur – nachts röhrenden Hirsch und bellende Rehböcke inklusive…
Morgens entdecken wir beim Check, dass die Halterung der vorderen Batteriewanne den Riffelpisten zum Opfer gefallen ist. Wir verzurren unsere doch recht mobil gewordene Batterie mit ausreichend Kabelbindern – was abenteuerlich wirkt, aber bis nach Hause bombenfest hält! 😉
Beim nahegelegenen Gut füllen wir noch leckeres Mineralquellwasser nach, ein Tipp der beiden Campbetreiber, und machen uns auf den Weg nach Vöru.

Im Süden Estlands hat die Eiszeit deutliche Spuren hinterlassen. Es ist eine sanfthügelige Landschaft, durchzogen von Bächen und Flüssen, die in unberührte Seen münden. Im Hinterland der baltischen Staaten, fernab geldbringender Touristenströme, erleben wir herrlich ursprüngliche, oft weithin unberührte Natur, aber auch bitterarme Landstriche. Ausgeblutet wie ehemals unsere östlichen Bundesländer… Doch dort, wo Geld zu verdienen ist, werden Häuser und Höfe liebevoll und mit viel Gespür für Tradition saniert und wieder aufgebaut. So steht auch manch altes Gutshaus heute wieder in ursprünglicher Pracht inmitten seiner weitläufigen Parkanlagen.
Wir haben uns für einen Stopp beim neogotischen Gutshaus von Alatskivi entschieden und gönnen uns dort einen ausgedehnten Spaziergang durch den englischen Park mit seinen riesigen, alten Bäumen. Und natürlich muss ich, Winni, den historischen Rosengarten genau inspizieren…
Der deutschbaltische Baron von Nolcken hatte sein Anwesen nach einer Reise durch Großbritannien nach dem Vorbild von Schloss Balmoral entworfen und in den Jahren 1880-85 erbauen lassen. – Und, ja, es ist ein hübsches, kleines Schlösschen geworden.

Mittsommernacht! – Wenn das Wetter uns schon ins Landesinnere verschlagen hat, wollen wir die doch am Peipsi järv, dem großen Binnensee zwischen Estland und Russland, feiern!
Flach – noch nicht einmal 20 Meter an seiner tiefsten Stelle im Süden, ist er aber mit der beeindruckenden Fläche von 3550 Quadratkilometern einer der größten Binnenseen Europas. In seiner Mitte verläuft die Grenze zu Russland, das man über weite Strecken am anderen Ufer garnicht sehen kann.

Mittsommernacht am Peipsi järv

Friedliches Plätzchen zwischen Peipsi järv...
Friedliches Plätzchen zwischen Peipsi järv...
... und orthodoxer Kirche in Nina.
... und orthodoxer Kirche in Nina.
Wetterspiele
Wetterspiele
Sobald die Sonne untergeht...
Sobald die Sonne untergeht...
... flackern am See die Mittsommernachtsfeuer auf.
... flackern am See die Mittsommernachtsfeuer auf.

Aprospos Peipsi järv… Hatte ich mich doch bei der für mich schier unaussprechlichen Dichte von Konsonanten in polnischen Wörtern schon auf die vielen Vokale, die das klangvolle Estnisch prägen, gefreut, so scheinen aber auch die angetreten zu sein, meine fließende Aussprache ins Stolpern zu bringen.
Aneinandergereihte, unterschiedliche Vokale werden dicht zusammengezogen gesprochen, aber bitteschön einzeln!  Da wird dann beispielsweise aus dem deutschen ‚ei‘ ein ‚e-i‘, was aber nicht mehr Zeit beanspruchen sollte, als unser ‚ei’…
Nur ‚au‘ bleibt ‚au‘. Gleiche Doppelvokale werden dagegen einfach langgezogen – und davon gibt es wirklich genug! Der Rhythmuswechsel zwischen lang- und kurzgesprochenen Vokalen wie bei der Insel Hiiumaa lässt das ganze dann schon recht finnisch klingen. Wenn man noch das ‚h‘ betont… – Hat ’ne ganze Weile gedauert, bis ich das einigermaßen draufhatte, war aber für manches Gelächter gut!
Lustig klingen für uns auch Ortsnamen wie Otepää oder das Inselchen Muhu oder der große Sumpf  im Mündungsdelta des Emajoe: Emajoe suursoo kaitseala…

Aber zurück zum Pe-ipsi 😉 järv:
Wir finden im kleinen Örtchen Nina, der ältesten Siedlung altgläubiger Russen am See, einen malerischen Stellplatz auf einer kleinen Landzunge am Leuchtfeuer. Abgelegen verspricht er uns ungestörten Genuss der Mittsommernacht.
In Tartu hatten wir ein gebührendes Festmahl für diesen denkwürdigen Abend besorgt: Frittierte Königskrabbenbeine mit einem delikaten Dipp und frischem Salat, das Ganze appetitlich angerichtet auf einer kleinen Platte. – Und das zu einem Preis, der einem keineswegs den Appetit verdirbt!
Petrus ist heute auf unserer Seite. Nachdem am Abend eine Wetterfront durchgezogen ist, können wir eine Stunde vor Mitternacht einen farbenprächtigen Sonnenuntergang genießen!
Die Sonne muss knapp unterm Horizont weiterwandern, denn auch das intensiv bleibende Abendrot wandert im Laufe der Nacht am Horizont entlang und geht nahtlos in ein genauso intensives Morgenrot über. – Ein einzigartiges Erlebnis!
Je weiter diese traditionsreiche Nacht voranrückt, desto mehr Menschen treffen sich – genau an unserem lauschig abgeschiedenen Stellplatz!
Diese kleine Landzunge ist wohl zur Mittsommernacht der Pilgerort aller Einheimischen…
Wir werden neugierige beäugt. Von Älteren eher zurückhaltend, ist die Altgläubigenkultur doch sehr isoliert von der Moderne.  Jüngere grüßen uns dafür umso freundlicher und es ergeben sich interessante Gespräche. Unser Dachzelt begeistert genauso wie unser kleines Camp, das Noah uns bietet.
Irgendwann gegen Drei Uhr morgens kehrt soweit Ruhe ein, dass wir in unser Dachzelt klettern können…

Am nächsten Morgen hat uns dann das Tiefdruckgebiet doch eingeholt. Die Luft ist nasskalt, es riecht nach Regen. Wir können unser Zelt gerade noch im Trockenen verstauen und machen uns auf Richtung Norden zum Wendepunkt unserer Reise nach Narva.
Solange es geht, bleiben wir auf der kleinen Straße, die dicht dem Seeufer folgt. Typisch langgestreckte Dörfer der altgläubigen Russen säumen oft kilometerweit mit ihren verwitterten Holzhäuschen unseren Weg. In einem Garten entdecken wir dann sogar eines dieser abenteuerlichen Gefährte, eine uralte Rostlaube mit riesigen Ballonreifen – mit solchen selbst zusammengeschraubten Ungeheuern fahren die Fischer im Winter zum Eisangeln weit auf den See hinaus.

Am Peipsi järv entlang

Das Tiefdruckgebiet hat uns eingeholt.
Das Tiefdruckgebiet hat uns eingeholt.
Mühsam instandgehaltene Holzhäuschen ...
Mühsam instandgehaltene Holzhäuschen ...
Klosteranlage in Vasknarva
Klosteranlage in Vasknarva
... teils auch liebevoll restauriert ...
... teils auch liebevoll restauriert ...
... oder derart imposant beim Kloster.
... oder derart imposant beim Kloster.

Unmittelbar vor der russischen Grenze bei Vasknarva geht es dann auf der 32, der zweiten und letzten möglichen Straßenverbindung zwischen dem See und dem Norden, durch einsames, menschenleeres Land Richtung Jöhvi. Endlose Wälder wechseln hier mit weiten, offenen Moorlandschaften ab. Der Puhatu – der größte Sumpf Estlands – erstreckt sich als Naturschutzgebiet weit um das auf unserem Weg liegende Kloster Pühtitsa.

Kloster Pühtitsa

das Torhaus des Klosters
das Torhaus des Klosters
Uspenski-Kathedrale
Uspenski-Kathedrale
reich verzierte Gebäude
reich verzierte Gebäude
eines der hölzernen Wohnhäuser der Nonnen
eines der hölzernen Wohnhäuser der Nonnen
meterhohe Brennholzmieten
meterhohe Brennholzmieten

Bei einem Rundgang in dieser weitläufigen, alten Klosteranlage zwischen grünen Zwiebeltürmen auf Kathedrale und Nebenkirchen; mächtigen, runden Brennholzmieten und russischen Nonnen fühlen wir uns ins tiefste Russland vergangener Zeiten zurückversetzt. Bauwerke und Anlage, selbst der wohlgeordnete Kräutergarten sind bis ins Detail liebevoll gestaltet und strahlen die erhabene Ruhe alter Klöster aus. Den mächtigen  Torbogen ziert farbenprächtig gemalt die Gründungsgeschichte des Klosters, die Marienerscheinung im 16. Jahrhundert und vor der Uspenski-Kathedrale ist ein schöner Pfingstrosengarten angelegt.

Um nach Narva zu kommen, haben wir weiterhin einzig die Möglichkeit auf der 32 Richtung Jöhvi nach Norden zu fahren. Links und rechts der Straße erstreckt sich über weite Quadratkilometer der mächtige Sumpf. An dessen Südseite, östlich der Strecke, liegen dicht an dicht 40 eiszeitliche Seen zwischen den bewaldeten Hügeln. Es muss ein Paradies für Wanderer und Sammler sein – die Milliarden Mücken überhören wir an dieser Stelle tapfer…
In Jöhvi trifft die 32 auf die größere Küstentrasse E20, der wir gen Osten zum Wendepunkt unserer Reise, nach Narva, folgen.

Narva – Wendepunkt unserer Reise

Wendepunkt Narva
Wendepunkt Narva
Hermannsfestung und Festung Ivangorod
Hermannsfestung und Festung Ivangorod
Festung Ivangorod
Festung Ivangorod
Hermannsfestung
Hermannsfestung
Grenzfluss Narva
Grenzfluss Narva

Narva hat, seiner Lage und Bedeutung als Knotenpunkt wichtiger Handelswege geschuldet, immer wieder im Laufe der Jahrhunderte, final im zweiten Weltkrieg, nahezu seinen ganzen Charme als lebhafte, wohlhabende Handelsstadt verloren. Nach der fast völligen Zerstörung wurde sie in – Zitat Reise Know-How-Führer Baltikum: ‚realsozialistisch-trostloser Weise‘ wieder aufgebaut. – Ich hätte es nicht besser ausdrücken können…
Doch die Uferpromenade an der Narva, dem Grenzfluss zu Russland, und die Hermannsfestung sind wieder hergerichtet und wirklich einen Besuch wert. Steht man dort am Ufer und nimmt sich ein paar ruhige Atemzüge für die wechselhafte Geschichte dieses Ortes Zeit, beeindrucken die trutzigen Burgen beidseits der sich friedlich zwischen ihnen dahinwälzenden Narva schon sehr.
Dort drüben beginnt Russland – und es sind nur noch 150km bis Sankt Petersburg.

Doch für uns beginnt genau hier der Heimweg, wir wenden uns zurück gen Westen und folgen erst einmal dem Küstenverlauf des Finnischen Meerbusens.
Beim Örtchen Toila stürzt sich der Wasserfall Valaste etwa 25 Meter tief über die Kante des Baltischen Glint ans Ostseeufer. Normalerweise. 
In diesem trockenheißen Sommer ist er eher ein Rinnsal, die Besichtigungsbrücke, im Winterhalbjahr einer Sturmflut zum Opfer gefallen, führt als sparrige Ruine ins Nichts – und wir fahren weiter.

Wir bleiben auf diesem kleinen Sträßchen, das uns direkt an der Steilküste entlangführt und halten an, wann immer die Bäume einen Ausblick auf die Ostsee freigeben. Denn gerade hier ist diese Steilküste am beeindruckendsten, erreicht sie bei Ontika doch mit 56 Metern ihre maximale Höhe.
Richtung Westen wird sie flacher, dafür die Sandstrände wieder breiter und vor allem zugänglich. Riesige dunkelgraue Findlinge liegen in Sand und Meer verstreut und geben diesen unberührten Stränden einen ganz eigenen Charme.

Auf dem Baltischen Glint

der Baltische Glint
der Baltische Glint
die Ostsee tief unten unerreichbar
die Ostsee tief unten unerreichbar
Landidylle
Landidylle
wieder Zugang zum Meer
wieder Zugang zum Meer
einsame Strände
einsame Strände

Unser Ziel heute ist der Lahemaa-Nationalspark in dessen Nähe wir übernachten wollen. Lahemaa bedeutet Buchtenland und tatsächlich ragen die vier Halbinseln Vergi, Käsmu, Pärispea und Juminda getrennt von tief eingeschnittenen Buchten weit in den Finnischen Meerbusen hinein. Der Nationalpark umschließt weite Teile des vorgelagerten Meeresgebietes, das hier sehr artenreich ist. Fließend geht das Land ins Meer über, von den flachen Strände aus wächst Schilf in die Bucht – Elchland. In den dichten Wäldern und einsamen Mooren leben nicht nur Elche, sondern auch Bären und Wölfe und die seltenen Schwarzstörche – und natürlich lässt sich mal wieder keines dieser hoch interessanten Viecherle sehen…
Hier im Schutzgebiet ist die ursprüngliche Landschaft Nordestlands erhaltengeblieben. In manchen der urtümlichen Fischerdörfchen glaubt man, die Zeit stand still. Doch sind auch hier viele kleine Museen entstanden, Häuschen liebevoll wieder hergerichtet und die Herrenhäuser in alter Pracht restauriert.
Wir beginnen unsere Tour mit dem malerischen Fischerörtchen Altja, das mit besonders vielen historischen Katen punktet und sehen uns dort die Höfe Toomarahva und Uustalu im Freilichtmuseum an. Folgen dann dem schmalen Sträßchen um die Halbinsel Vergi, umrunden die Käsmu lath (Bucht) und machen auf der gleichnamigen Halbinsel im Ort Käsmu halt. Hier ist der Tourismus angekommen – und ermöglicht Einkommen. Käsmu zieht sich mit seinen liebevoll restaurierten, bunten Holzhäusern und beeindruckenden Kapitänsvillen eng um die Bucht, der dichte Wald grenzt unmittelbar an den kleinen Ort
und dieser gilt zurecht als einer der schönsten in Estland. Früher wurden hier Segelschiffe gebaut und Kapitäne ausgebildet, diese wohlhabende Vergangenheit spiegelt sich bis heute im Ortsbild wider. Wir gönnen uns eine späte Mittagspause auf den dicken Polstern lümmelig-gemütlicher Palettenbänke vor einen Café, kosten von diesem typisch nordisch leckeren Gebäck und lassen unseren Blick über die weite Bucht schweifen.

Lahemaa-Nationalpark

Elchland!
Elchland!
Gutshaus Palmse möis
Gutshaus Palmse möis
historische Dörfer
historische Dörfer
sehenswert und geschichtsträchtig
sehenswert und geschichtsträchtig
die Zeit mancherorts stehengeblieben
die Zeit mancherorts stehengeblieben

Der Nationalpark ist geprägt vom Meer, zu dem es von keinem Standort aus wirklich weit ist. Ein kräftiger Seewind zaust stetig durch die Kiefern und macht die Luft selbst in diesem heißen Sommer angenehm frisch.
Doch wir müssen uns allmählich vom Lahemaa-Nationalpark, in dem vielerorts nicht nur in den Museen die Zeit angehalten zu sein scheint, verabschieden und nehmen die kleine Straße, die hinter Kolga auf die 85 mündet. Doch vorher wollen wir einen Abstecher nach Palmse möis, einem komplexen Herrengut, das an dieser Strecke liegt, machen. Das Anwesen ist stilvoll restauriert, doch der Eintrittspreis so hoch, dass er sich wirklich nur lohnt, wenn man einen ganzen Tag für die weitläufige Anlage mit Park und See und allen Nebengebäuden einplant. Es ist bereits Nachmittag und wir schauen uns die ganzen Reisebusse auf dem gutbesuchten Parkplatz  an und beschließen, weiter zu fahren.
Auf der Straße 1, einer Art Autobahn, die nördlich von Rakvere beginnt, machen wir dann erst einmal wieder Strecke und wollen so zügig nach Tallinn kommen.

Doch bevor wir Tallinn erreichen, lockt uns die kleinste Festung Estlands nach Kiiu. Die Siedlung liegt nur einen Steinwurf  nördlich der Straße 1. Aber dieses Türmchen würde als Illustration jedem Märchenbuch zur Ehre gereichen!

Estlands kleinste Festung

Der Wohnturm ist die Festung.
Der Wohnturm ist die Festung.
Ein gut zu verteidigender Eingang, ...
Ein gut zu verteidigender Eingang, ...
die Balustrade mit Rundblick kaum einnehmbar, ...
die Balustrade mit Rundblick kaum einnehmbar, ...
die Treppe hinauf schwer zu erobern ...
die Treppe hinauf schwer zu erobern ...
und der Wohnraum ritterlich rustikal.
und der Wohnraum ritterlich rustikal.

Romantisch von wildem Wein umrankt scheint es aus der Zeit gefallen zu sein. – Ganz klar, dass ich das in Ruhe ansehen und fotografieren muss! Nicht nur ein Mal…
Nach einer Weile kommt eine alte Frau gebückt durch die niedrige Türe heraus und läd mich mit einem vielsagenden Lächeln ein. „Drinnen auch so schön, Sie gucken müssen!“, sucht sie ihr Deutsch zusammen. Uns hat wohl das D auf Noah’s Heck verraten. Englisch spricht sie nicht, aber mit ihrem durchaus verständlichen, wenn auch manchmal in ungewohnter Zusammenstellung gesprochenen Deutsch erzählt sie mir die wechselvolle Geschichte dieses alten Turmes und ich höre ihren liebevollen Beschreibungen an, wie verbunden sie mit diesem Ort ist.
Während sie mich über die schmalen, steilen Steinstufen hinauf zum Wohnraum führt, schießt mir in den Sinn: Wie muss das gescheppert haben, wenn hier ein Ritter in voller Montur im Rückwärtsgang runterbefördert wurde…
Comic aus! Ich konzentriere mich wieder auf ihre Erzählung.
Als Wohnsitz vom ansässigen Gutsherren einige Jahre nach 1500 erbaut, trotzte die Festung manchem Angriff und überdauerte die Jahrhunderte, nur der achtlosen Misswirtschaft der Besatzungszeit war sie machtlos ausgeliefert.
Die alte Frau gehört zu einer Gruppe entschlossener Einheimischer, alles alte Menschen, ehemalige Handwerker etc., die das so nicht gewähren lassen wollten und gleich nach der Selbstständigkeit Estlands aus eigenen Mitteln den Wiederaufbau über etliche Jahre gemeistert haben. Meine Hochachtung! – Und natürlich kaufe ich ihr zwei von ihren leckeren, selbstgemachten Likören aus heimischen Kräutern und Honig ab. Von dem geringen Eintrittspreis wäre die Unterhaltung des Türmchens sicher nicht zu machen…

In Tallin spüren wir einmal mehr, dass Städte nicht unser Ding sind. Je größer, desto weniger.
Wir lassen das wuselige Ballungsgebiet um die Hauptstadt hinter uns und suchen wieder die abgelegensten Sträßchen Richtung Läänemaa. Doch bevor wir den Landstrich Harjumaa westlich von Tallinn verlassen, sehen wir uns noch den merkwürdigen Kirchturm von Harju-Risti an. Die Ursprünge dieser alten Kirche stammen aus dem 14. Jahrhundert und er beherbergt die älteste Kirchenglocke Estlands aus eben dieser Zeit. Aber die eigentümliche Form des Kirchturms hat ein teilweiser Einsturz im 17. Jahrhunder verursacht. Pragmatisch repariert, steht er jetzt halt halb über der Kirche. – Ich kenne keinen zweiten seiner Art…

Im Nordwesten Estlands

Eigenwilliger Kirchturm von Harju-Risti
Eigenwilliger Kirchturm von Harju-Risti
Wegenetze, wie wir sie lieben
Wegenetze, wie wir sie lieben
ein weiteres Scrabbelroad-Opfer
ein weiteres Scrabbelroad-Opfer

Wir umfahren die großen Sümpfe des Läänemaa-Suursoo und Leidisoo im Westen wieder durch diese so typisch dichten, ausgedehnten Waldgebiete. Die Scrabbleroads dort haben ein weiteres Opfer gefordert: Nach losgerüttelten Radmuttern und einer gebrochenen Batteriewannenhalterung ist es jetzt eine unserer Nightbreaker, die den Dienst quittiert hat…
Nun ja, wer solche Straßen sucht, tut gut daran, Ersatz dabei zu haben. 😉

Auf der Halbinsel Noarootsi erinnern uns nicht nur so typisch rote Holzhäuser an Schweden, auch zweisprachige Ortsschilder fallen auf: Estnisch und Schwedisch. Waren hier doch jahrhundertelang Küstenschweden heimisch.
Wir bummeln mit Noah gemächlich durch die Kiefernwälder, suchen uns in verschlafenen Küstendörfchen Ausblicke auf’s Meer und lassen uns Zeit für diese schöne Landschaft. Gegen Abend erreichen wir die malerischen Bucht von Haapsalu. – Hier wollen wir bleiben!
Zwischen einem kleinen Hafen und dem endlos wirkenden Schilfgürtel der Bucht schlagen wir unser Nachtlager auf.
Fischerboote und eine handvoll Segelboote liegen fast gänzlich still im ruhigen Hafenwasser. Jemand im Anzug kommt mit seinem Motorboot von Haapsalu herüber, macht fest – nicht ohne uns mit einem kritisch fragenden Blick zu mustern. Wir nicken ihm einen freundlichen Gruß zu, er grüßt zurück, steigt auf’s Fahrrad um und strampelt heim in seinen Feierabend. – Es gibt definitiv langweiligere Wege zur Arbeit! Zumal wir gelesen haben, dass im Winter diese Strecke als Iceroad freigegeben wird…

In der Abendflaute wärmt uns die Sonne beim Grillen, wir beobachten die Kraniche im Schilf und haben einen Logenplatz mit traumhafter Aussicht über Bucht und Meer!
Stunden später verabschiedet ein glühender Sonnenuntergang diesen wunderschönen Abend. Im Schilf wird es allmählich still und drüben senkt sich die Nacht über die mittelalterliche Silhouette von Haapsalu.
Sehr spät, schon in der Nacht, rumpelt ein uraltes, arg mitgenommenes Vehikel mit einem noch älteren, wettergegerbten Fischer an die Pier. Auch er mustert uns, nickt kurz und macht dann sein Boot klar, sein Auto lässt er einfach offen an der Hafenkante stehen und tuckert hinaus auf dieses nun so geheimnisvoll im Dunklen schimmernde Meer…

Bucht von Haapsalu

Die Bischofsburg von Haapsalu
Die Bischofsburg von Haapsalu
Paradies für Kranich & Co.
Paradies für Kranich & Co.
Feierabend in rotgoldnem Licht
Feierabend in rotgoldnem Licht
Abendrot verzaubert Meer und Himmel
Abendrot verzaubert Meer und Himmel
Ruhe über Haapsalu
Ruhe über Haapsalu
Blaue Stunde am Hafen
Blaue Stunde am Hafen
Morgentoilette bei Mama Schwan
Morgentoilette bei Mama Schwan
Auf ein Wiedersehen, Haapsalu!
Auf ein Wiedersehen, Haapsalu!

Der Morgen bringt strahlend blauen Himmel und Sonnenschein, den wir genüsslich zu einem ausgedehnten Frühstück nutzen – wie herrlich ist es, so frei entscheiden und ohne jeglichen Termindruck reisen zu können!!
Und nach drei Sommertagen, die einzig Gelegenheit zur ‚Hohen Kunst partieller Waschungen‘ boten, kommt mir dieser warme Morgen gerade recht für ein ausgiebiges Bad in dieser schönen Bucht. – Ausgiebig war es angedacht, tatsächlich ziehe ich enge Bahnen um die verrostete Badeleiter am Kopf der Pier. Eng genug, um im Falle eines Krampfes in diesem echt noch kalten Wasser, sicher an Land kommen zu können. Trotzdem hat dieses Bad einen ganz eigenen Charme! – Schwärme junger Fische tummeln sich hier im flacheren Wasser und kommen neugierig heran, manche so dicht, dass sie mich federleicht berühren! Bei meinen extra langsamen Schwimmzügen halten sie noch nicht einmal zehn Zentimeter Abstand zu meinen Händen und folgen meinen Bewegungen in ihrer ganz eigenen Choreografie…
Wortwörtlich reell erfrischt geht es dann auf nach Muhu.

Wir fahren nach Muhu

Moderne Fährverbindung ...
Moderne Fährverbindung ...
... mit ordentlich Platz und ...
... mit ordentlich Platz und ...
... internationalen Nutzern.
... internationalen Nutzern.
entspanntes Warten
entspanntes Warten
Noah schwimmt nach Muhu!
Noah schwimmt nach Muhu!

Wir nehmen von Virtsu aus eine der modernen Fähren und setzen über die Meerenge des Suur väin, des großen Sundes, nach Muhu über.
Das Inselchen ist immerhin die drittgrößte Insel Estlands, das mehr als 1500 Inseln und Holme, wie Mini-Eilande hier genannt werden, zu bieten hat. Zwischen Wachholderhainen und kleinen Mooren lockt Muhu uns in seinen Westen. Dort gibt es das Muhu-Museum Koguva, ein Freilichtmuseumsdorf, dessen Wurzel bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Es liegt heute in ein lebendiges, bewohntes Dorf eingebettet. Erstaunlicherweise stehen alle Häuser dieses Museumsdorfes an ihren angestammten Plätzen, an denen sie ursprünglich vor langer Zeit errichtet wurden – ein natürlich gewachsenes Dorf, das die Esten verstanden haben, zu erhalten!
Das Holzgatter in der jahrhundertealten, mit dicken Moospolstern überzogenen Trockenmauer steht einladend offen. Ober auf dieser Mauer liegt solch ein umgestülptes Fischerboot, von dem wir gehört hatten. Im Museum erfahren wir, dass sie den Fischern als Freunde galten und, wenn überhaupt, allenfalls in der Johannisnacht verbrannt werden durften – alles andere hätte Unglück bedeutet!
Im tiefen Schatten mächtiger Baumkronen überziehen diese sattgrünen Moospolster die alten Schilfdächer, markieren die Wetterseite der knorrigen Stämme und scheinen die verwitterten Steinmauern zusammenzuhalten. Ein hoher Ziehbrunnen steht wie für Fotos dort platziert am Rande eines ganz kleinen Dorfplatzes zwischen den niedrigen Feldsteinhäusern im Sonnenschein. Der Tooma Hof, mit seinen Nebengebäuden Zentrum des Museums, wurde bis ins letzte Jahrhundert noch bewirtschaftet. Ein bekannter estnischer Schriftsteller, Juhan Smuul ist dort 1922 geboren worden.
Wir sehen uns in aller Ruhe in Ställen und Scheunen um, entdecken manch Bekanntes, aber auch manch fremd anmutendes, was uns ganz clever in mehrsprachigen Mappen, die man statt einer Führung bekommt, erklärt wird…

Muhu-Museum Koguva

Willkommen in Koguva
Willkommen in Koguva
Uralte Trockenmauern umfrieden das Museum
Uralte Trockenmauern umfrieden das Museum
historischer Ziehbrunnen
historischer Ziehbrunnen
Blick in vergangene Zeiten
Blick in vergangene Zeiten
in Jahrhunderten zusammengewachsen
in Jahrhunderten zusammengewachsen

Später folgen wir der gut ausgebauten 75 über den wenige Kilometer langen Fahrdamm, der seit Ende des 19. Jahrhunderts den Väike väin, den kleinen Sund, durchquert und seither Muhu mit Saaremaa verbindet.
Auch auf Saaremaa gibt es wieder ausgedehnte Wälder. Trockenmauern geleiten uns durch urige Dörfer mit oftmals noch schilfgedeckten Häuschen. In Kuressaare, der Inselhauptstadt, wechseln wir direkt auf die 77, wir wollen heute noch ganz in den Süden der Insel nach Sääre. Dort beim Leuchtfeuer Sörve säär gibt es ein paar Stellplätze, da wollen wir die Nacht verbringen.
Daraus wird nur leider nix.
Das Kap Sörve ganz im Süden dieser als einsam beschriebenen, schmalen Landzunge, die mehr als 30 Kilometer Richtung Lettland ins Meer ragt, ist zugestellt mit Reisebussen und auch die Camper stehen schon Schlange…
Wir nicht.
Wir stellen Noah für einen kurzen Rundblick etwas abseits des Getümmels, laufen zum Leuchtfeuer, winken Kolgas rags am Horizont zu und sind genauso schnell wieder auf Noah zurück und ergreifen die Flucht. – Nein, solche Menschenaufläufe sind echt nicht unser Ding!
Dafür werden wir auf dem Rückweg mit einem traumhaften Stellplatz zwischen Kiefern am Strand belohnt!

Idyllischer Campground auf Saaremaa

auf dem Damm nach Saaremaa
auf dem Damm nach Saaremaa
das salzarme, seichte Wasser lockt viele Vögel an
das salzarme, seichte Wasser lockt viele Vögel an
Outdoorbad
Outdoorbad
idyllischer Stellplatz
idyllischer Stellplatz
Ballett der Küstenwachen
Ballett der Küstenwachen
die romantischste Laterne überhaupt...
die romantischste Laterne überhaupt...
blaue Stunde
blaue Stunde
Nachtwache bis die Augen zufallen...
Nachtwache bis die Augen zufallen...
urige Hängematte im Morgenlicht
urige Hängematte im Morgenlicht
... also, dieses Frühstück kann nur schmecken!
... also, dieses Frühstück kann nur schmecken!

Von der Rezeption fahren wir eine ganze Weile auf Sandwegen durch lichten Kiefernwald zum Strand. Wieder können wir unseren Platz frei aussuchen und nutzen Noah’s Potential. Dicht am Meer, zwischen den letzten Bäumen am Strand stehen wir im tieferen Sand – und wissen, dass das am nächsten Morgen kein Problem sein wird. 😉
Schnell ist unser Camp aufgebaut, der Cobb angefacht und wir haben Muse, diesen romantischen Abend zu genießen. Allmählich schläft der Wind ein, Ruhe legt sich über Wald und Meer. Ein wolkenloser Himmel schenkt uns spät eine farbintensive Blaue Stunde und in der Nacht wandert der Vollmond mit seinem warmweißen Licht langsam über den Himmel und verzaubert die Atmosphäre. – Diese Nacht ist zum Schlafen viel zu schade!

Wolkenlos, mit strahlendem Sonnenschein geht es für uns am nächsten Morgen auf der 77 entlang der Küste der Suur katel, so der Name der kleinen Bucht, mit ihren weißen Stränden zurück in Richtung Norden. Wir wollen ein bisschen über die Insel touren auf dem Weg zu den Angla-Windmühlen, dem Wahrzeichen Saaremaas.
Kleine Holzwindmühlen, im Aufbau unseren Bockmühlen ähnlich, waren in Westestland weit verbreitet, insbesondere auf den flachen Inseln vor der Küste. Fast jeder Hof hatte seine eigene Mühle, die aber nicht direkt beim Hof sondern zusammen auf unbewaldeten Anhöhen erbaut wurden. Solch eine Ansammlung gibt es heute nur noch in Angla.
Dort wurde ein Zentrum für Volkskultur eingerichtet. Schön gemacht, aus dem typischen Stein der Insel, dem sandfarbenen Saaremaa-Dolomit, nur leider sehr touristisch…
Aber Jörg hat seinen Spaß an den uralten Treckern und wir amüsieren uns über den Ziegenstall, der einmal der Bug eines großen Holzbootes war. … augenscheinlich keiner dieser wertgeschätzten Kameraden eines alten Fischers…

Angla-Mühlen

die Wahrzeichen Saaremaas
die Wahrzeichen Saaremaas
ein Ständerwerk wie Bockmühlen
ein Ständerwerk wie Bockmühlen
mit massivem Unterbau
mit massivem Unterbau
Seefahrerziegen?
Seefahrerziegen?
weitgereister Deutz
weitgereister Deutz
Deutsche Qualitätsarbeit!
Deutsche Qualitätsarbeit!
Woher kommen die anderen?
Woher kommen die anderen?

Auf dem Weg nach Muhu stoppen wir ein letztes Mal auf Saaremaa. Wir wollen uns Karja kirik, die gotische Kirche des Ortes Karja ansehen. Sie zählt mit ihren mittelalterlichen Fresken und detailreichen Steinskulpturen zu einer der schönsten Estlands.
Von außen fast abweisend, eher Festung als Kirche, heißt uns das geschmiedete Portal in der uralten Steinmauer mit offenen Toren willkommen und auch das Kirchenportal läd mit weit geöffneten Flügeln ein.
Draußen gleißender Sonnenschein, müssen sich unsere Augen erst an das Zwielicht im Inneren gewöhnen, doch je länger wir dann die Skulpturen betrachten, desto mehr ausgefeilte Einzelheiten fallen uns an den alten Arbeiten auf. Und die floralen Motive sind so naturgetreu widergegeben, dass man anhand der Blätter mühelos die Pflanze bestimmen kann, die dem Künstler dafür Pate stand.
Nach einer ganzen Weile setzen wir unseren Rückweg fort und genießen wenig später wieder den weiten Blick über die offene Wasserlandschaft vom Verbindungsdamm aus. Muhu durchqueren wir diesmal ohne weiteren Stopp, setzen heute mit der blauen Schwesterfähre über den Suur väin und wollen Strecke gen Süden machen.

Zurück auf's Festland

Karja kirik
Karja kirik
einladendes Portal
einladendes Portal
historische Steinmetzarbeiten
historische Steinmetzarbeiten
Überfahrt nach Muhu
Überfahrt nach Muhu
diesmal das blaue Schwesterschiff
diesmal das blaue Schwesterschiff

Auf halbem Wege zwischen Virtsu mit seinem Fährhafen, in dem wir angekommen sind, und Lihula biegen wir als Abkürzung nach Kalli doch wieder auf eines dieser kleinen Sträßchen ab. Jenseits großer Verbindungstrassen führt es uns durch ausgedehnte Wälder, die durchzogen sind von Wasserläufen und Mooren. Kein Mensch, kein Fahrzeug begegnet uns hier.
Wir sind gut vorangekommen, trotzdem wollen wir von Pärnu aus der gut ausgebauten Via Baltica folgen. Sie verläuft nun vielversprechend dicht an der Küste. Häufig ist aber durch vorgelagerte Waldstreifen kein einziger Blick auf die Pärnu laht, die Bucht von Pärnu, möglich. Deshalb
beschließen wir, ab Häädemeeste auf die alte Küstenstraße zu wechseln und uns ein letztes Mal diese derzeit noch so verschlafenen Fischerorte und unverbauten Ausblicken auf’s Meer zu gönnen. Der letzte dieser Orte auf estnischem Boden ist das kleine Ikla.

Bye Eesti, wir sehen uns nicht zum letzten Mal!

Über den unscheinbaren Grenzübergang zwischen Ikla und dem lettischen Ainaźi, der bis vor wenigen Jahren Fußgängern vorbehalten war, rollen wir völlig unbehelligt. Hier trifft das alte Küstensträßchen wieder auf die Via Baltica, die nun als einzig mögliche Straße nach Süden führt und sich bis Salacgríva tatsächlich dicht an der Rigaer Bucht entlangschlängelt.
Auf diesem Abschnitt halten wir öfter an und lassen unseren Blick immer wieder weit über’s Meer und diese unberührte Küste schweifen.
Ab Salacgríva zieht sich die Via Baltica weiter ins Land zurück und wir machen nun wirklich wieder Strecke.

Campground an der lettischen Ostküste

Jörg sorgt für's Lagerfeuer
Jörg sorgt für's Lagerfeuer
... traumhaft ...
... traumhaft ...
...
...
Angler im letzten Licht
Angler im letzten Licht
Katzensuchbild
Katzensuchbild

Spät am Abend finden wir wieder solch einen schönen Campground, dieser liegt direkt oberhalb einer steinigen Abbruchkante über dem Strand. Jörg kümmert sich gleich um’s Lagerfeuer und bald brutzelt es auch wieder vielversprechend auf unserem Cobb. Für die kleine Kneipe am Platz waren wir zu spät …
Lange noch sitzen wir in dieser lauen Sommernacht draußen, sehen den Booten auf dem stillen Meer zu und beobachten, wie die mit prächtigem Farbspiel untergehenden Sonne den Himmel erglühen lässt und dieses Leuchten weit über die flachen Wellen wirft.
Morgens setzt das warme Licht der aufgehenden Sonne die roten Sandsteine am Strand gekonnt in Szene und der stattliche Platzkater nutzt diese malerische Bühne, um trittsicher über die runden Felsen auf Patrouille durch sein schönes Revier zu balancieren.

Die Via Baltica verläuft weiterhin im Landesinneren, aber wir wollen an diesem Tag ohnehin mit einem nächsten großen Schritt die Rigaer Bucht umrunden. Auf dieser Route waren wir vor vielen Tagen nach Osten gefahren.
Die kommende Nacht möchten wir unbedingt noch einmal in Melnsils verbringen – das stand schon nach unserem ersten Stopp hier fest.
Heute pfeift uns ein starker Wind entgegen und so wählen wir diesmal einen Stellplatz im Schutz des bewaldeten Hügels, der sich parallel zu Küste und Camp-Wiese entlangzieht. – Und wieder überzeugt dieser Campground mit seiner engagierten jungen Crew in allen nur denkbaren Kategorien.

Kolkas rags

Zurück in Melnsils
Zurück in Melnsils
groß gewordene kleine Störche
groß gewordene kleine Störche
das Tor zum Kolkas rags
das Tor zum Kolkas rags
Kolkas rags
Kolkas rags
neugierige Blindschleiche
neugierige Blindschleiche

Kolgas rags, das Horn von Kolka oder Kap Kolka, will ich mir diesmal aber unbedingt genauer ansehen. Auf dem Weg dorthin fällt uns auf, wie groß der Storchennachwuchs in den drei Wochen geworden ist. Das flauschige Daunengefieder haben sie gegen ausgefärbte Schwungefedern eingetauscht und recken ihre Hälse neugierig über den mächtigen Nestrand – und haben nach wie vor permanent Hunger.

Bald fahren wir durch den lichten Kiefernwald zum Kolgas rags. Jörg möchte eine Pause auf dem Parkplatz einlegen und ich mache einen kleinen Spaziergang durch den sonnigen Wald bis sich die weite Sandfläche der Landspitze vor mir öffnet.
Von Stürmen immer wieder neu geformt, ragt das Kap zwischen den Wellen der Ostsee und denen der Rigaer Bucht hinaus ins Meer. Weit draußen steht das alte Leuchtfeuer Kolkas baka, in dessen Richtung vom Strand aus ein unterseeischer Damm führt. Von beiden aufeinandertreffenden Meeresströmungen aufgeworfen, ragt er je nach Stärke der Stürme und Strömungen mal aus dem Meer, mal verbirgt er sich in den Wellen. Das namensgebende Horn, Anfang dieses Dammes, weist hinaus zu diesem Leuchtfeuer und heute kann man deutlich sehen, wie er sich als heller Streifen dicht unter der Meeresoberfläche entlangzieht. Hinausgehen sollte man besser nicht, der Sand ist tiefgründig und die Strömungen so stark und unberechenbar, dass hier Baden verboten ist.

Aber ein Spaziergang über diese ausgedehnte Sandfläche, mit der Sommersonne auf der Haut und durchgepustet von dem hier herrschenden Starkwind, entschädigt dafür.
Nach einem letzten Blick auf Saaremaa, das sich im Nordwesten über den Horizont erstreckt, gehe ich zurück durch den lichtdurchfluteten Küstenwald. Und dann liegt doch am Rande des Weges, im warmen Sand eine beachtliche Blindschleiche – und sie bleibt dort auch liegen, als ich näherkomme! Knapp 50 Zentimeter lang und fingerdick ist sie wohl ausgewachsen, die größte, die ich in meinem ganzen Leben bisher sah. Ohne Scheu hebt sie den Kopf und guckt, wer sich da vor ihr in den Sand kniet während ich sie fotografiere …

Nach diesem schönen Stopp folgen wir wieder so nah wie möglich der lettischen Westküste. Kiefernwälder erstrecken sich soweit das Auge reicht und die kleine Straße führt immer wieder kilometerweit schnurgerade hindurch. 

Impressionen von der lettischen Westküste

Schnurgeradeaus
Schnurgeradeaus
Aufgegeben
Aufgegeben
artenreiche Flora
artenreiche Flora
einsame Küsten
einsame Küsten
... und wieder geradeaus
... und wieder geradeaus

Auch diese Strecke kennen wir bereits vom Beginn unserer Tour und gönnen uns so ganz gezielt noch einmal das schöne kleine Sträßchen, das von Sake aus in weitem Bogen ein Reservat umgeht und dann eng am Meer entlangführt. Hier haben wir immer wieder prächtige Ausblicke von der Steilküste weit über die Ostsee hinaus und so brauchen die paar Kilometer bis Liepája eben ihre Zeit…
Liepája, besser gesagt die russisch-orthodoxe Kathedrale, ist unser nächstes Ziel. Grotesk und fragwürdig empfinden wir den Zwiespalt zwischen der bitteren Armut in den tristen, heruntergekommenen Plattenbauten der Sowjetzeit, die das russische Stadtviertel Karoste unverändert prägen, und der sich strahlend dahinter erhebenden Dreifaltigkeits-Kathedrale – die gerade goldstrotzend und prunkvoll restauriert wird…

Liepája und seine Kathedrale

Groteske Widersprüche
Groteske Widersprüche
und schöne Seiten
und schöne Seiten
Impossantes Bauwerk
Impossantes Bauwerk
Russisch-orthodoxe Kathedrale
Russisch-orthodoxe Kathedrale
Ringsum bittere Armut
Ringsum bittere Armut

Von nun an geht es in Riesenschritten gen Heimat. Stundenlang fahren wir wieder auf schnurgeraden Straßen durch Küstenwälder, ohne einen Blick auf’s Meer gewährt zu bekommen. – Wer in’s Balticum reist, sollte Wald schon mögen…
Fast unbemerkt passieren wir die litauische Grenze. Klaipeda umfahren wir und übernachten noch einmal auf dem netten, kleinen Campingplatz Ventainé, der am Rande des Vogelschutzgebietes gegenüber der Kurischen Nehrung liegt.
Am Morgen holen wir uns auf dem Weg zum Leuchtturm in Vente die illustre Mischung von Kaffee, Schockomuffins und leckerem Räucherfisch und machen uns auf den Weg um’s Kaliningrader Gebiet herum.
Überall sind fleißige Storcheneltern auf Beutezug, viele gefährlich nah an den Straßen – und heute haben sie mächtig zu rudern in den stürmischen Böen…
Wir folgen dem Nemunas entlang der Grenze und überschreiten wieder die Zeitzone. – Diesmal aber steht sie unter Beobachtung! 😉
Zurück in den sanftgeschwungenen Hügeln des schönen Masuren verbringen wir dort die Nacht – und werden diesmal kaum von Mücken attackiert.
Durch Polen halten wir uns dann mit der E28 nahe der Küste und sind bald wieder auf der Deutschen Allenstraße unterwegs.
Der heiße Sommer zeichnet sich umso deutlicher in der Landschaft ab, je weiter wir nach Süden kommen. Wir haben erschreckend viele verdorrte Felder und Wiesen gesehen – und in Mecklenburg einen brennenden Mähdrescher inmitten des Getreidefeldes…

Lettland - Deutschland

Noch einmal durch weite Wälder
Noch einmal durch weite Wälder
Angezapft
Angezapft
Vielerorts noch Geschichte
Vielerorts noch Geschichte
Deutsche Alleenstraße
Deutsche Alleenstraße
Hitzerekordsommer
Hitzerekordsommer

Das Fazit unserer Reise? – Wir kommen wieder!